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Wiesbadener Kurier/Tagblatt vom 28.05.2005

Amerika ist nicht das Land der Freiheit

Autorin Ricarda Junge im Schlachthof
Von Corinna Spatz

WIESBADEN Was alpenländische Akkordeonklänge mit Ricarda Junges Roman "Kein fremdes Land" zu tun haben, erschloss sich bei der musikalisch umrahmten Lesung im Schlachthof nicht unmittelbar. Allenfalls der Gegensatz zwischen europäischer Bodenständigkeit und der amerikanischen Ostküstenszenerie, dem geografischen Hintergrund für den neuen Roman der, gerade mit dem Konell-Preis ausgezeichneten, Wiesbadener Autorin "Kein fremdes Land" wurde damit benannt.

Alles andere als neugewonnene Freiheit empfindet Ricarda Junges Figur Christiane. Die 16-jährige Hamburgerin, Tochter eines Managers, dessen berufliches Umfeld sich nunmehr in die Staaten verlagert hat, muss in der elitären Highschool der Ostküste erfahren, dass die heile, wohlhabende Welt ihren Preis hat. Restriktive Maßnahmen nämlich und manipulative Erziehungsprogramme wie jenes gegen Teenager-Schwangerschaften: Drei Wochen lang müssen Schülerinnen und Schüler rund um die Uhr für ein rohes Ei oder einen Pack Mehl sorgen. Die Verletzlichkeit der Gegenstände soll Verantwortungsgefühl wecken und besonneneren Geschlechtsverkehr bedingen. Christianes pragmatische Einsicht, dass zur Vermeidung ungewollter Schwangerschaft die Pille allemal wirkungsvoller sei, kann in einem religiös motivierten Klima erwünschter Abstinenz nicht greifen.

Tom, freier Journalist für die "Philadelphia Daily News" und als solcher einer mysteriösen Selbstmordserie auf der Spur, lebt mit Jugendfreundin Maria ebenfalls in der zerbrechenden Illusion, dass Amerika ein Land der Freiheit und der Möglichkeiten sei. Am Vorabend des zweiten Irakkrieges bedarf es der Argumente gegenüber Leon, dem Freund und Landsmann, der aus der angenommenen moralischen Überlegenheit und aus der "Ehre, Blut und Vaterland"-Propaganda geborgten Anmaßung meint, Amerika werde den Krieg gewinnen.

Das Zurechtfinden zwischen Ländern und Lebensabschnitten ist Thema der Autorin, die schleichende Erkenntnis, dass die Vereinigten Staaten doch fremder sind als angenommen: Ricarda Junge zeichnet mit ihren Figuren auch die europäische Sicht auf die kulturellen und lebensweltlichen Skurrilitäten des großen Nachbarn.

(Quelle: Wiesbadener Kurier/Tagblatt vom 28. Mai 2005)

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